Positionspapier Langfassung

imageVorwort

Ganze fünf Euro mehr im Monat sind bei der Neubestimmung des soziokulturellen Existenzminimums durch das „Regelbedarfsermittlungsgesetz“ im April 2011 für die Betroffenen herausgekommen – dazu ein unzulängliches und bürokratisches Bildungs-und Teilhabepaket,das bis heute kaum bei den Kindern ankommt. Zum 1.Januar 2012 wurde der Regelsatz schließlich von 364 Euro auf 374 Euro angehoben,als verspätete Anpassung an die Preis-und Lohnentwicklung. Ab 1.Januar 2013 beträgt der Regelsatz 382 Euro.

Eine Neubestimmung war fällig, nachdem das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9.Februar 2010 die Regelsätze der Grundsicherung (Hartz IV) für verfassungswidrig erklärt hat- te. Zeitgleich zur Neubestimmung der Regelsätze setzte die Regierungskoalition ihr so genanntes Sparpaket durch,mit dem bei der Grundsicherung und der Arbeitsmarktpolitik insgesamt 32,5 Mrd. Euro gekürzt wurden. Unterm Strich wurde die soziale Absicherung nicht verbessert, sondern­ massiv Sozialabbau betrieben.

Dieses Ergebnis zeigt: Es besteht kein ernsthafter politischer Wille,eine verlässliche Sicherung des Existenzminimums und von sozialer und kultureller Teilhabe zu verwirklichen. Die mehr als sieben Millionen Menschen, die von einem unzulänglichen Existenzminimum leben müssen, empfinden eine solche Politik als Schlag ins Gesicht. Sie stellt auch die Arbeit all derer in Frage, ist auch eine Brüskierung all derer,die sich für eine Verbesserung der Lebenssituation­ von armen Menschen in diesem Land engagieren.

Zahlreiche Verbände und Organisationen haben sich seit 2010 mit Stellungnahmen,­Expertisen, öffentlichen Erklärungen und Aktionen bemüht, die politische­ und gesetzliche Neuregelung des soziokulturellen Existenzminimums in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der betroffenen Menschen zu beeinflussen.

Die Forderungen vieler Verbände nach einer Erhöhung der Regelsätze beliefen sich auf deut- lich über 400 Euro. Viele Stellungnahmen zum Gesetzentwurf,die zu der Expertenanhörung im Bundestag am 22.November 2010 vorgelegt wurden,waren sich einig in der Kritik an der erneuten Willkür in den Berechnungen und der Forderung­ nach einer deutlichen Erhöhung der Regelsätze.

Nach mehreren Sondierungsgesprächen haben sich die Unterzeichner auf die folgenden Min- destanforderungen an eine Neubestimmung­ des gesellschaftlichen Existenzminimums geeinigt. Wir denken,dass die Auseinandersetzung darum, was zu einem menschenwürdigen Leben in unse- rer Gesellschaft unabdingbar ist, noch lange nicht vorbei ist. Gemeinsam wollen­ wir unsere Position in die Gesellschaft hinein und an die politischen Entscheidungsträger heran tragen.

Wir sind überzeugt, dass eine allgemeine gesellschaftliche Diskussion darüber notwendig ist,was eine menschenwürdige und gerechte Grundsicherung beinhalten­ soll,um der wachsenden Armut und den bedrohlichen Entsolidarisierungstendenzen in unserer Gesellschaft entgegen zu wirken. Auch dazu soll unser Positionspapier­ einen Beitrag leisten.

 

HIER finden Sie die Einlage zum Positionspapier: Anpassung der Zahlen an die neuen Regelsätze ab 1. Januar 2015

 

Unser Ziel: Ein menschenwürdiges Leben für alle

Um dem gesellschaftlichen Spaltungsprozess zwischen Arm und Reich entgegenzuwirken und die untere Auffanglinie für die Existenzsicherung neu zu bestimmen, fordern wir gemeinsam:

1. Das soziokulturelle Existenzminimum darf nicht weiter mittels fragwürdiger Berechnungsmethoden festgesetzt werden.

Es geht um ein Grundrecht unserer Verfassung,nicht um politische Opportunität­ und Kassenlage. Wir fordern eine methodisch saubere,transparente Ermittlung der Regelsätze und einen Verzicht auf willkürliche,sachlich nicht begründbare Abschläge.

2. Die aus der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe (EVS) gewonnenen Daten müssen anhand weiterer Untersuchungen, die den tatsächlichen Bedarf ermitteln, auf ihre Plausibilität überprüft werden.

Die statistischen Befunde zu den Ausgaben der unteren Einkommensgruppen sind vielfach wenig geeignet,das soziokulturelle Existenzminimum zu ermitteln,weil die EVS- Daten eher den Mangel an Bedarfsdeckung abbilden als den eigentlichen Bedarf. Außer- dem wird das Minimum an zuverlässigen Daten in zu vielen Fällen zu weit unterschritten, um noch zu zuverlässigen Ergebnissen kommen zu können. Zu einer bedarfsgerechten­ Bestimmung der Regelsätze müssen die EVS-Ergebnisse mit den tatsächlichen aktuellen Lebenshaltungskosten abgeglichen werden.

3.Die Defizite des gegenwärtigen Systems werden bei Kindern und Jugendlichen am offenkundigsten.

Nach Verlautbarung der Bundesregierung hätten es die Daten der EVS 2008 sogar er- laubt,die Leistungssätze von Kindern und Jugendlichen ab Januar 2010 gegen­über­ 2009 zu senken. Das hatte mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun. Den Schritt,die Sätze Minderjähriger zu kürzen,vollzog­ die Bundesregierung zwar nicht, beschloss aber, die Beträge aus dem Jahr 2009 so lange beizubehalten,bis künftige Anpassungen aufgrund der Preis-und Lohnentwick­lung­ die von ihr neu ermittelten niedrigeren Beträge über die Werte von 2009 anheben. Wir fordern die sofortige Aussetzung dieser Regelung und die aktuellen Beträge entsprechend der Preisentwicklung fortzuschreiben.

Um Regelsätze in einer Höhe festzulegen, die den tatsächlichen Mindestbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerecht werden, fordern wir, deren Regelsätze­ bedarfsorientiert zu überprüfen. Zugleich ist die heutige Altersstaffelung und der Verteilungsschlüssel von haushaltsbezogenen Ausgaben („Gemeinkosten“)­ zu hinterfragen. Das Beispiel Kinderernährung verdeutlicht, wie unzu­verlässig­ die Ergebnisse sind, wenn sie wie heute ausschließlich aus der EVS ermittelt werden.

4. Die jährliche Anpassung der Regelsätze soll- te sich ausschließlich nach der Preisentwicklung der regelsatzrelevanten Güter richten.

Der Bezug zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ist durch die EVS als Basis der Regelsatzbestimmung gegeben. Eine zusätzliche Berücksichtigung der Unwägbarkeiten der Entwicklung von Löhnen und Abgaben ist nicht sachgerecht für die Ermittlung des Existenzminimums.

5. Für langlebige Gebrauchsgüter,aufwändige Leistungen der Gesundheitspflege­ und bei hohen Mobilitätsanforderungen müssen Extraleistungen­ gewährt werden.

Nicht alles ist pauschalierbar,gerade größe- re notwendige Anschaffungen sind aus dem Regelbedarf nicht zu finanzieren–auch weil sie mit den Methoden der EVS nicht so ermittelt werden können,dass sie dem konkreten Bedarfsfall gerecht werden.

6. Das soziokulturelle Existenzminimum muss als Mindestanspruch allen zugestanden werden – egal,ob sie gerade über Erwerbs­ einkommen­ verfügen können oder nicht.

Zu einem menschenwürdigen Leben gehört dies ebenso dazu wie faire Erzeugerpreise,­ existenzsichernde Erwerbseinkommen und Nachhaltigkeit als Qualitätsmaßstab für die benötigten Waren und Dienstleistungen.

7. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges

Existenzminimum gilt für alle hier lebenden Menschen. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist abzu­ schaffen, der gleiche Zugang aller hier le­ benden Menschen zu Leistungen nach dem SGB II und SGB XII ist sicherzustellen. Auf Arbeits-und Ausbildungsverbote,Residenzpflicht und Einweisung in Sammellager ist zu verzichten. Hier lebende Unionsbürger dürfen von der Existenzsicherung nicht aus- geschlossen werden.

8. Die Entscheidung über das Existenzminimum muss der Gesetzgeber unter breiter gesellschaftlicher Beteiligung treffen.

Bisher wird die Frage,was zum Leben mindestens erforderlich ist,faktisch weitgehend von der Ministerialbürokratie beantwortet. Wir wollen dies ändern und fordern die Einsetzung einer unabhängigen Kommission. Diese soll aus WissenschaftlerInnen,VertreterInnen von Wohlfahrts-und Sozialverbänden,den Sozialpartnern, Kommunen und nicht zuletzt Betroffenen selbst bestehen.

Aufgabe der Kommission ist die Erarbeitung von Vorschlägen für den Gesetzgeber sowohl hinsichtlich der Parameter der EVS-Auswertung als auch der Überprüfung der EVS-Ergebnisse im Sinne eines „Bedarfs-TÜVs“. Eine bedarfsorientierte Überprüfung nach der Warenkorbmethode kann zudem die Ermittlung der Regelsätze von einer„technokratischen“ Hinterzimmer-und Expertenentscheidung zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte öffnen.

Berlin,den 6.Dezember 2012

Arbeiterwohlfahrt Bundesverband • Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft • Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände • ALSO Oldenburg & Regionalverbund der Erwerbsloseninitiativen Weser-Ems • Attac Deutschland • Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland • Deutscher Gewerkschaftsbund • Diakonie Deutschland • Erwerbslosen Forum Deutschland • Evangelische Obdachlosenhilfe • Evangelischer Fachverband für Arbeit und soziale Integration • Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen • Nationale Armutskonferenz • NaturFreunde Deutschlands • PROASYL• Sozialverband Deutschland (SoVD) • Sozialverband VdK Deutschland • Tacheles Wuppertal • Verband alleinerziehender Mütter und Väter • Volkssolidarität Bundesverband

 

Analyse und Argumente

Einführung:

Gesellschaftlicher Rahmen

Etwa 12 Millionen Menschen leben in der reichen Bundesrepublik in Armut oder sind von Armut bedroht. Somit ist jeder siebte Mensch arm oder armutsgefährdet. Bei den unter 18-Jährigen ist es sogar jeder fünfte.1 Allein 6,2 Millionen Menschen sind auf„Hartz IV“angewiesen,darunter 1,7 Millionen Kinder unter 15 Jahren­.2 Diese Zahlen sind Ausdruck einer immer mehr in Arm und Reich gespaltenen Gesellschaft. Die zu­ nehmende Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen ist auch die Folge bewusster politischer Weichenstellungen in der Vergangenheit. Während die Einkommen aus Ver­ mögen seit Jahren beträchtlich gestiegen sind, stagnieren für viele die Arbeitseinkommen oder sie sinken­ sogar.Immer mehr Menschen sind trotz Erwerbsarbeit auf staatliche Leistungen angewie­ sen.Die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse hat drastisch zugenommen3, was ganz besonders die junge Generation betrifft. Auch Menschen mit mittleren Einkommen sind immer häufiger von einem Abrutschen in Armut bedroht oder müssen sich mit unsicheren Lebenssituationen,mit befristeter Beschäftigung und abnehmender sozialer Sicherung bei zunehmenden Zeiten der Erwerbslosigkeit abfinden. Tiefe Einschnitte in die Sozialsysteme wie beispielsweise­ die Absenkung des Rentenniveaus oder die folgenschwere Ersetzung der Arbeitslosenhilfe durch das Hartz-IV-System haben das soziale Netz durchlöchert.

Wir brauchen klare gesetzliche Regeln,die prekäre und niedrigst entlohnte Arbeit ausschließen und gute,mindestens existenzsichernde Arbeitsplätze sicherstellen. s ist ein Skandal,dass 1,4 Mio. Erwerbstätige–darunter 555.000 sozial­ versicherungspflichtig Beschäftigte–so wenig verdienen,dass sie ergänzend Hartz IV beziehen müssen.4 Einige Arbeitgeber missbrauchen die Grundsicherung als Kombilohn und stehlen sich aus der Verantwortung,existenzsichernde Löhne zu zahlen. Neben anderen Maßnahmen,etwa zur Re-Regulierung­ der geringfügigen­ Beschäftigung oder der Leiharbeit ist die Einführung eines exis­tenzsichernden­ gesetzlichen Mindestlohns von zentraler Bedeutung. Dessen Höhe muss so be- messen sein, dass zumindest alleinstehende Voll- zeitbeschäftigte unabhängig­ von Hartz IV leben können. Ein gesetzlicher Mindestlohn in ausreichender Höhe stellt sicher, dass Grundsicherungsleistungen nicht als Kombilohn die Arbeitgeber von ihrer Verantwortung als Sozialpartner entlasten und Niedriglöhne zementieren.

Die den Hartz-Gesetzen zugrunde liegende Fokussierung auf„Arbeit um jeden Preis“steht im Widerspruch zum unzureichenden gesamtwirtschaftlichen Stellenangebot­ und ist zudem blind gegenüber Qualitätsanforderungen an„gute Arbeit“.Ein Anspruch auf den„Vorrang von Arbeit“ setzt voraus, dass Menschen auch tatsächlich existenzsichernde,versicherungspflichtige und sinnvolle Arbeit aufnehmen können. Dazu gehört auch das Recht auf hochwertige Ausbildungs-,Weiterbildungs-,Rehabilitations-und Förderangebote.

Für alle hier lebenden Menschen,die über kein ausreichendes Einkommen verfügen,muss das soziokulturelle Existenzminimum auf einem Niveau sichergestellt werden, das dem gesellschaftlichen Reichtum und den Möglichkeiten eines hoch entwickelten Landes angemessen ist. Neben der Versorgung von Grundbedürfnissen­ gehört zum Existenzminimum auch ein Mindestmaß an sozialer und kultureller Teilhabe.

Bei den nachfolgenden Überlegungen und Forderungen konzentrieren wir uns weitgehend auf die Frage,was bei der Ermittlung eines soziokulturellen Existenzminimums zu berücksichtigen ist.

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1Quelle: Statistisches Bundesamt (Mikrozensus 2009,Armutsge- fährdungsgrenze: 60-Prozent-Medianeinkommen), siehe: http://www.amtliche-sozialberichterstattung.de
2Bundesagentur für Arbeit: Analyse der Grundsicherung für Arbeitsuchende,Februar 2012
3Im Jahr 2010 verdienten 12 Prozent der Beschäftigten (4,1 Mio.) weniger als sieben Euro brutto und davon 1,4 Mio.sogar weni- ger als fünf Euro,im Niedriglohnsektor (2/3 Medianeinkommen) arbeiteten insgesamt 23,1 Prozent der Beschäftigten (IAQ-Report 01/12).
4Bundesagentur für Arbeit: Analyse der Grundsicherung für Arbeitsuchende,Februar 2012

 

I. Anforderungen an eine menschenwürdige

Existenzsicherung

1. Grundrecht–statt„Übergangsrecht“

Die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz ist ein grundlegendes Verfassungsrecht. Ein menschenwürdiges Leben beinhaltet materielle Rechte wie Ernährung, Kleidung, Wohnung, Körperpflege,Teilhabe am gesellschaftlichem Leben,­ Bildung und anderes mehr. Das Sozialstaatsprinzip soll die Menschenwürde ausgestalten. Menschenwürde und Sozialstaatsprinzip sind vom Staat selbst in vollem Umfang zu gewährleisten. Diese rechtlichen Grundlagen wurden vom Bundesverfassungsgericht mit dem Urteil vom 9.Februar 2010 bestätigt. Die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip sind unabdingbar. Grundrechte müssen nicht „verdient“ werden. Sie gelten uneingeschränkt für alle hier lebenden Menschen.

Die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz darf auch nicht auf ein „Übergangsrecht“ be­ schränkt werden,z.B. mit dem Argument,niemand solle auf Dauer­ davon leben können oder sollen. Aktuelle Untersuchungen zeigen,dass tendenziell immer mehr Menschen – auch dauerhaft – auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen sind. Die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hat in den vergangenen Jahr- zehnten die„normale“Erwerbsbiographie aufgelöst – und verhindert für immer mehr Menschen ein ausreichendes Einkommen und den Erwerb ausreichender Rentenansprüche. Daher ist das soziokulturelle Existenzminimum so lange als sozialstaatliche Leistung zu gewähren,wie die Situation dies erfordert und soweit kein eigenes, ausreichendes Einkommen erzielt werden kann.

Existenzminimum

Die Grundsicherung einschließlich der Regelsätze bestimmt auf kurze oder lange Zeit oder sogar dauerhaft das Einkommen von rund vier Millionen Leistungsbeziehenden5, für die eine Existenzsicherung über Erwerbsarbeit gar nicht möglich ist. Hierzu zählen Kinder,Kranke,Pflegende und Erziehende im Hartz-IV-Bezug. Insbesondere gilt dies für diejenigen,die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beziehen,weil sie in der Regel keine Aussicht mehr haben, die Grundsicherung zu verlassen.

Auch über die einzelnen Leistungssätze hinaus sind die Beträge des Regelbedarfs auf Dauer von grundlegender Bedeutung. Im Unterhalts-und Pfändungsrecht sind die Regelsätze eine wichtige Größe für die Ermittlung des zum Leben Not- wendigen. Noch darüber hinausgehend sind sie entscheidend für die steuerlichen­ Grundfreibeträge für alle Erwachsenen und Kinder. Sie bestimmen,was (alle) Menschen zum Leben mindestens brauchen,welches Einkommen der Staat nicht besteuern darf. Somit gilt, ein angemessener Regelsatz sichert das Existenzminimum aller Steuerpflichtigen.

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5 Aktuelle Werte dazu im Anhang,dort in Tabelle 3

 

2. Gleiche Rechte für MigrantInnen und Flüchtlinge

Keinesfalls jedoch darf das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Dasein bestimmten Menschen vorenthalten werden, auch nicht über ein Sonderrecht für Ausländer. Hier lebende Unions- bürger,Drittstaatsangehörige und Flüchtlinge müssen die gleichen Existenzsicherungsleistungen erhalten wie Inländer.

Die seit 1993 geltenden,seitdem nie an die Preisentwicklung angepassten Regelsätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) lagen bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Juli 20126 bei Erwachsenen um 40 Prozent (224,97 Euro statt 374 Euro/Monat) und bei Kindern um bis zu 47 Prozent (132,93 Euro statt 251 Euro/Monat für die Altersstufe sechs Jahre) unter den Regelsätzen­ des Sozialgesetzbuches (zweites und zwölftes Buch).7 Es ist integrations- politisch widersinnig und verletzt die Menschen- würde,Flüchtlinge über Jahre hinweg unzureichend auszustatten und vom sozio-kulturellen Leben auszuschließen. Erschwerend kommt hinzu, dass Berechtigten nach dem AsylbLG in der Regel die Aufnahme von Erwerbstätigkeit und damit die Überwindung der Hilfebedürftigkeit verboten wird. Das AsylbLG ist mit dem universellen Anspruch auf eine menschenwürdige Existenzsicherung für alle hier lebenden Menschen nicht vereinbar, es muss abgeschafft werden. Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge müssen statt Sachleistungen, Sammellagern und Minimalmedizin gleiche soziale Leistungen und Rechte und somit auch einen gleichberechtigten Zugang zu den Grundsicherungsleistungen des SGB II und XII und zu regulärem Krankenversicherungsschutz erhalten. Arbeits-und Ausbildungsverbote für Ausländer einschließlich der Vorrangprüfung sind aufzuheben,die Arbeitsmarktintegration unterstützende Leistungen sind bereit zu stellen.

Ausländerrechtliche Restriktionen wie Zwangsverteilung,Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen, welche die soziale Teilhabe und den Zugang zu Arbeit und Bildung zusätzlich behindern,gehören abgeschafft.

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6Urteil vom 18.Juli 2012–1 BvL 10/10–1 BvL 2/11
7Vgl.ausführlich„Das AsylbLG und das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum“,­Stellungnahme Flüchtlingsrat Berlin zur Verfassungsmäßigkeit des AsylbLG im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages am 07.02.2011, www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/Classen_AsylbLG_Verfassung.pdf

 

3. Freiheit,Sicherheit und Perspektive– statt Angst und Ausgrenzung

Heute bestimmen wechselnde Phasen von Erwerbsarbeit,Erwerbslosigkeit,prekärer­ Beschäftigung, Haus-und Familienarbeit, Fortbildung oder ergänzender Inanspruchnahme­ von Sozialleistungen die Lebensperspektive von einer wachsenden Zahl von Menschen. Materielle Armut und Unsicherheit sind für viele die Folge, besonders für Menschen mit fehlender oder nicht verwertbarer Qualifikation,­Menschen mit„Migrationshintergrund“,kinderreiche Familien,Alleiner- ziehende,ältere Menschen und überproportional für Frauen. Stattdessen sollte die Gesellschaft­ ihren Mitgliedern für die verschiedenen Phasen des Lebens durch eine ausreichende sozialstaatliche Existenzsicherung,einen existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn und den verschiedenen Lebensphasen angemessene Erwerbsarbeitszeiten mehr Entscheidungsfreiheit und eine sichere Perspektive ohne Angst vor Einkommensarmut und Ausgrenzung ermöglichen.

Mit einer solchen Perspektive sind Kürzungen oder gar die komplette Streichung von Leistungen,die doch das Existenzminimum sichern sollen, unvereinbar. Wir sehen daher dringenden Handlungsbedarf,die bestehenden Sanktions- und Zumutbarkeitsregeln zu überwinden. Ähnliches gilt auch für alle gesetzlichen Regelungen, die das Leben in einer menschenwürdigen Wohnung in Frage stellen,wie nicht bedarfsdeckende Leistungen für die Kosten der Unterkunft,Pauschalierungsregelungen oder Satzungsregelungen mit besonders niedrigen Wohnstandards.

Wir sind der festen Überzeugung, dass eine solche verlässliche Sicherung der materiellen Existenz (neben hochwertigen öffentlichen An- geboten z. B. für die Kinderbetreuung) unbedingt notwendig ist,um Arbeit und Familie miteinander zu vereinbaren,Kinder groß zu ziehen und die Erwerbs-, Haus-und Pflegearbeit gerecht zwischen den Geschlechtern zu verteilen.

Es ist unser erklärtes Ziel,für alle Menschen eine ausreichende Existenzsicherung zu erreichen und somit auch von dieser Seite der wachsenden Ungleichheit in der Einkommensentwicklung entgegenzuwirken­. Eine Umverteilung von oben nach unten und die Sicherung und Stabilisierung der steuerlichen Einnahmen für die öffentlichen Haushalte ist nicht nur sozialpolitisch und gesellschaftspolitisch geboten,sondern auch ökonomisch sinnvoll. Denn auch neuere Untersuchungen haben nachgewiesen,dass volkswirtschaftlich eine geringere Spreizung zwischen Arm und Reich Sinn macht8 und die Menschen umso glücklicher und gesünder leben,je weniger sozia- le Unterschiede es in der Gesellschaft gibt.9

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8Siehe vergleichende Untersuchung von Gustav Horn (2011): Des Reichtums fette Beute,Frankfurt a.M.
9Richard Wilkinson,Kate Pickett (2009): Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin

 

4. Sozial,fair und ökologisch–statt billig, gesundheits- und umweltschädlich

Nicht etwa Knappheit von Waren und Dienstleistungen ist der Grund für die engen Bemessungsspielräume sozialer Leistungen. Der gesellschaftliche Reichtum, gemessen­ am Bruttoinlandsprodukt,hat sich trotz der Krisenphasen in den letzten dreißig Jahren mehr als verdoppelt. Trotzdem klaffen die Einkommen immer weiter auseinander,sinken die Einkommen aus abhän- giger Beschäftigung gegenüber den Kapitalerträgen und verarmen die öffentlichen Haushalte bei wachsendem privatem Reichtum.

Deutschland ist zu einem Niedriglohnland geworden. Rund 12 Millionen sind arm,leben an oder nur knapp oberhalb der Armutsgrenze: Erwerbs- lose,ältere Menschen,Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen, MigrantInnen, AufstockerInnen, prekär Beschäftigte, Studierende, NiedriglöhnerInnen. Ohne einen existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn und mit dem Druck der Hartz-IV-Behörden,bei Strafe der Leistungskürzung jede Arbeit annehmen zu müssen,bietet die Existenzsicherung keinen ausreichenden Schutz vor ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen mit Stundenlöhnen bis weit unter sechs Euro.

Die Höhe der gesellschaftlichen Existenzsicherung (zusammen mit der Höhe eines­ gesetzlichen Mindestlohns) muss eine untere Grenze setzen, unter die das Einkommen von Menschen nicht fallen darf, damit sie menschenwürdig leben, sich am gesellschaftlichen Leben beteiligen können und nicht materiell ausgegrenzt werden. Sie bestimmt aber auch die gesellschaftliche Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen mit, die für die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln,­ Wohnungen, Kleidung, Energie, Gesundheit, Bildung und Mobilität notwendig sind. Sie hat damit erhebliche volkswirtschaftliche Auswirkungen.

Weit mehr als 12 Millionen Menschen in Deutschland sind heute darauf angewiesen,­ ihre Nahrungsmittel und ihre Kleidung so billig wie möglich einzukaufen. Diese durch Einkommensarmut beförderte Nachfrage nutzt einer hochproblematischen Dumpingpreis-Politik bei Produzenten und im Handel: Großabnehmer diktieren hier und weltweit systematisch Preise und drücken die Löhne und Arbeitsbedingungen ihres eigenen Personals. Eine Abwärtsspirale bei Preisen und Einkommen entsteht.10

Wir halten einen deutlich höheren Anteil für Lebensmittel im Regelsatz für dringend erforderlich, um eine ausgewogenere und gesündere Ernährung zu ermöglichen. Zudem setzen eine stärker regional und ökologisch ausgerichtete Lebensmittelerzeugung sowie fairere Handelsbeziehungen voraus, dass sich die Menschen besse- re Produkte auch leisten können.11

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10Dies geht einher mit einer kritikwürdigen und grausamen Massentierhaltung und der Zerstörung­ regionaler Märkte in den Entwicklungsländern infolge„unserer“Lebensmittelexporte und Futtermittelimporte.Die ausufernde und auf riesige Dauer- Monokulturen setzende,teils schon heute ihre eigenen Grund- lagen zerstörende,Nahrungsmittelproduktion einerseits und Armutseinkommen­ hier wie dort wenn auch in unterschiedlich gravierender Ausprägung–gehören­ zusammen.
11Es ist uns bewusst, dass ein Umsteuern im Konsumverhalten al- ler Einkommensklassen zugleich­ mehr Aufklärung und besseren

 

5. Regional- und volkswirtschaftliche Bedeutung des Regelsatzes

Oft übersehen werden die volks-und regional- wirtschaftlichen Folgen der Höhe der Regelbedarfssätze. Hier ergeben sich allein aus der hohen Zahl der Menschen,­die auf Leistungen der sozialen Grundsicherung angewiesen ist, deutliche Wirkungen,wenn der Regelsatz angehoben würde oder wenn sich der Empfängerkreis­ aufgrund der wirtschaftlichen Situation ausweiten würde. Nach Verbraucherschutz verlangt. Tabelle 1 erhielten Ende 2010 insgesamt fast acht Millionen Personen Leistungen der sozialen­ Grundsicherungssysteme,das entspricht fast zehn Prozent der deutschen Wohnbevölkerung. Der größte Teil davon bewegt sich im SGB-II-System („Hartz IV“) und bei den Grundsicherungsleistungen im Rahmen der Sozialhilfe im SGB XII. Deren Anteil an der Bevölkerung beträgt rund neun Prozent mit Bruttoausgaben­ in Höhe von über 40 Mrd.Euro.12

Der wirtschaftliche Nutzen einer Regelsatzanhebung auf einen tatsächlich bedarfs­deckenden­ Betrag würde in der jetzigen Finanz-und Wirtschaftskrise die besondere­ Wirkung eines„automatischen Stabilisators“ entfalten. Dieser Stabilisator besitzt drei sehr vorteilhafte Eigenschaften:

(1)Da die Haushalte mit Bezug einer SGB-II- oderSGB-XII-Leistung eine Sparquote­ in der Nähe von Null aufweisen,fließen die öffentlichen Mittel fast gänzlich in den Konsum – und

(2)dies ohne zeitliche Verzögerung. Die Leistungen für das Existenzminimum umfassen etwa zu neun Zehnteln das SGB-II-System („Hartz IV“) und sind

(3)raumwirtschaftlich gesehen äußerst zielgenau. Regionen mit einem großen Bestand­ an sogenannten Langzeitarbeitslosen beanspruchen entsprechend mehr Mittel als Durchschnittsregionen. Mit anderen Worten: In die Regionen,die es strukturpolitisch und sozialpolitisch am meisten benötigen,würden nach der Anhe­bung­ der Regelsätze der Grundsicherung auch die meisten zusätzlichen Mittel fließen. In der Karte 1 (im An- hang,S.34) wären dies entsprechend die Kreise, die die höchsten SGB-II-Dichten aufweisen.

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12Aktuellster Bericht: Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2012): Soziale Mindestsicherung­ in Deutschland 2010. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden

Tabelle 1: Empfänger von Leistungen der sozialen Mindestsicherung sowie Bruttoausga­ben­ Ende 2010,Datenquelle: Statistisches Bundesamt (2012)

Leistungsart Empfänger Ausgaben in Mrd.Euro
Leistungen nach SGB II („Hartz IV“) 6.469.400

35,9

Mindestsicherungsleistungen im Rahmen der 895.000

4,8

Sozialhilfe SGB XII außerhalb von Einrichtungen
Regelleistungen Asylbewerberleistungsgesetz 130.300

0,6

Leistungen Bundesversorgungsgesetz (laufende Leistungen der Kriegsopferfürsorge) 42.000

0,5

Insgesamt 7.536.700

41,8

II. Das Dilemma der statistischen Berechnung

Die tatsächlichen Verbrauchsgewohnheiten einer bestimmten Bevölkerungsgruppe­ als Grundlage für die Neuberechnung der Regelsätze heran- zuziehen,befreit zwar auf den ersten Blick von Diskussionen darüber,was der Mensch zum Leben in unserer Gesellschaft braucht, welche Bedarfe berücksichtigt werden sollen und was ein Warenkorb enthalten muss,um diese Bedarfe zu befriedigen.

1. Die Tücken der Statistik

Bei näherem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass schon die Auswahl und Zusammensetzung­ der Bezugsgruppe nicht ohne politische,öko- nomische und ethisch-normative Setzungen möglich ist. Ob die Ausgabegewohnheiten der untersten­ 15 oder der untersten 20 Prozent der Bevölkerung als Maßstab dienen,ob bestimmte Positionen wie z. B. Schnittblumen, Zigaretten oder Gartengeräte berücksichtigt werden sollen, kann nur politisch und vom ethisch-normativen Standpunkt aus entschieden werden. Zudem werden auch die Tücken der Statistik schnell deutlich: Wer muss aus der Bezugsgruppe herausgerechnet werden,um Zirkelschlüsse zu vermeiden? Sind genügend Menschen erfasst, um aussagefähige Daten zu erhalten? Können die Ausgaben für Kinder von den Ausgaben der Erwachsenen „abgeleitet“ werden? Ernähren sich die Menschen,die für Lebensmittel gar keine Ausgaben angeben,von den Tafeln? Wie können größere,aber notwendige einmalige Ausgaben berücksichtigt­ werden,die gerade nicht in den Erhebungszeitraum fallen?

Die Ausgaben der untersten 15 Prozent der Bevölkerung ohne Sozialleistungs­be­ziehende­ belaufen sich (ohne Wohn-und Sozialversicherungskosten) für eine/n Alleinstehende/n laut EVS 200813 auf rund 500 Euro im Monat. Das spricht für sich. Vor diesem Hintergrund einen Regelsatz von 364 Euro zu konstruieren,braucht es erhebliche, letztlich willkürlich gesetzte Einschnitte. Dieses Ergebnis dann aber so darzustellen, als ob es sich zwingend aus den Daten der EVS ergeben hätte, ist eine grobe Täuschung der Öffentlichkeit.

2. Was ist – oder was sein soll: update erforderlich!

Weil die Bestimmung des Existenzminimums auch mit dem Statistikmodell nicht ohne poli- tische und ethisch-normative Setzungen aus- kommt,sind wir für eine offene­ Diskussion und nachvollziehbare Begründungen, wie sie auch vom Bundesverfas­sungsgericht­ gefordert wur- den. Die offensichtlich willkürlichen Setzungen der Bundesregierung müssen zurückgenommen werden: Die Bezugsgruppe müssen weiterhin die untersten 20 Prozent der Einkommen bilden. Neben den BezieherInnen der derzeitigen Grundsicherungsleistungen müssen und können entgegen den Verlautbarungen der Regierung auch die verdeckt armen Haushalte,deren Ein- kommen unter der Hartz-IV-Schwelle liegen,aus der Referenzgruppe herausgerechnet­ werden. Einzelne Ausgabepositionen dürfen nicht willkür- lich gestrichen werden.

Aber darüber hinaus offenbart die EVS 2008 das Konsumverhalten der unteren Einkommensgruppen auch als Ergebnis jahrzehntelanger Massenarbeitslosigkeit, gesellschaftlicher Spaltung und restriktiver Armutsverwaltung. Eine einfache Übernahme­ dieser Daten für die Neubestimmung des soziokulturellen Existenzminimums projiziert diesen gesellschaftlichen Zustand in die Zukunft, statt ihn kritisch­ zu hinterfragen­. Wenn die untersten Schichten der Gesellschaft so verarmt sind,dass sie sich kein Obst und keine Bücher mehr leisten können,dann weist die EVS keine oder nur sehr geringe Ausgaben für Obst und Bücher aus – folglich „gehören“ Obst und Bücher nicht zum Existenzminimum.

Wir plädieren dafür,die Neubestimmung des soziokulturellen Existenzminimums als Chance wahrzunehmen, gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu korrigieren. Wir plädieren­ für ein Existenzsicherungs-update – ein update auf einen gerech­ten­ und dem gesellschaftlichen Reichtum angemessenen Regelsatz. Dazu dürfen die Daten der EVS nicht einfach abgebildet werden, sondern sie können als wissenschaftliche­ Grundlage dazu herangezogen werden, Mängel und Bedarfsunter­eckungen festzustellen und zu korrigieren. Das wird nicht in allen Punkten so einfach­ sein wie z.B. bei dem offensichtlich völlig unzureichenden Tagessatz für Essen und Trinken von 3,55 Euro für ein 13-jähriges Kind, aber wir wollen anhand der „Abteilungen“bei den Verbrauchsausgaben diese Analyse und Diskussion aufnehmen­.

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13EVS = Einkommens-und Verbrauchsstichprobe.Vgl.zu den Ausgaben der untersten 15 Prozent der nach dem Haushalts- nettoeinkommen geschichteten Haushalte auch die Bundes- tagsdrucksache 17/3404 vom 26.10.2010,dort die Anlage zu Artikel 1

 

III. Geld und öffentliche

Angebote–Existenzsicherung umfassend betrachten

Es muss nicht immer Geld sein, wenn Sach- und Dienstleistungen diskrimi­nie­rungsfrei­ und unentgeltlich zugänglich sind. Wenn in unseren Städten und Gemeinden z.B. der Schulbesuch samt dazu- gehöriger Ausstattung und der Transport für alle Kinder frei wären,wenn sie dort ein kostenloses, gesundes und leckeres Mittagessen erhielten und am Nachmittag qualifiziert und liebevoll betreut würden, dann bräuchte es im Regelsatz dafür keinen Geldbetrag mehr.

Für die Existenzsicherung ist nicht nur die Grund­sicherung–mit ihren Hauptbestandteilen­ Regelleistung und Kosten der Unterkunft–von elementarer Bedeutung­. Auch eine allgemein zugängliche und weitgehend unentgeltliche öffentliche Infrastruktur–wie z.B.f r die Bildung, Gesundheitsversorgung und die Sicherung­ von Rechtsstaatlichkeit–ist für die Verwirklichung von Menschenwürde und Sozialstaatlichkeit­ elementar. Es entwertet die Regelsätze, wenn daraus auch noch für fehlende öffentliche Daseinsvorsorge bezahlt werden muss. Eine weit­ gehend frei zugängliche soziale Infrastruktur entlastet die Grundsicherung. Sie ist auch ein wesentlicher Beitrag zur Teilhabe von Bevölkerungs- gruppen mit geringem­ Einkommen,die keine Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen und wirkt Stigmatisierung entgegen.

Zukünftige Anpassungen auf den Feldern kommunaler Angebote und notwendige bzw. sinnvolle Neuerungen sollten weitere Bereiche einschließen–so etwa Bildung,Mobilität,Sport und Frei- zeit oder Kultur–und Angebote nach und nach als weitgehend frei zugängliche Gemeingüter für alle Menschen bereit stellen. Eine entsprechend ausgebaute (kommunale) Infrastruktur würde Almosen für Bedürftige­ überflüssig machen.14

Bis dahin ist es ein weiter Weg. Für jedes Angebot,das Geld kostet,werden wir in der Grundsicherung Mittel bereitstellen und bestimmen müssen, wie viel ein Mensch bei uns mindestens zum Leben braucht. Ebenfalls ist zu klären,was es bedeutet, wenn die dazu benötigten Dienstleistungen und Waren Maßstäben von Fairness und Nachhaltigkeit genügen sollen. Im Folgenden zeigen wir deshalb zu den einzelnen Bedarfsabteilungen und zum Aspekt „Anschaffung langlebiger und kostspieliger Gebrauchsgegenstände“ sowie zu der notwendigen Fortschreibung der Leistungsbeträge,was bei einer realitätsgerechten Bestimmung des Not- wendigen zu berücksichtigen wäre. Zum anderen zeigen wir,wie die Bundesregierung willkürlich kürzt,indem sie noch nicht einmal die heute so- wieso schon minimalen Ausgabebeträge berücksichtigt.

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14Es ist uns allen klar,dass die finanzielle Ausstattung der Kommunen verlässlich und hinreichend­ zu gestalten ist und die bisherigen Unwägbarkeiten durch konjunkturelle Schwankungen etwa bei Gewerbesteuereinnahmen und die Auswirkungen der Steuersparpakete der letzten Jahre zu überwinden sind. Ohne verlässliche Steuereinnahmen gibt es keine verlässliche­ soziale und kulturelle Infrastruktur vor Ort. Soziale Integration und Teilhabe entscheiden sich in den Kommunen.

 

1.Ernährung

2.Bekleidung und Schuhe

3.Haushaltsenergie (Strom)

4.Innenausstattung,Haushaltsgeräte und -gegenstände

5.Gesundheit

6.Mobilität

7.Nachrichtenübermittlung

8.Freizeit,Unterhaltung,Kultur

9.Entwicklung,Bildung und Teilhabe von

Kindern und Jugendlichen

10.Beherbergungs-und Gaststättendienstleis- tungen

11.Andere Waren und Dienstleistungen

12.Selten anfallende Anschaffungen oder Ausgaben mit höherem Wert

13.Fortschreibung des Niveaus der Existenz- sicherung

Die im Folgenden gemachten Aussagen zur Referenzgruppe der Ein-Personen-Haushalte beziehen sich auf die von der Bundesregierung gewählten untersten 15 Prozent sowie auf die ermittelten Verbrauchswerte der Auswertung der EVS 2008,die auf die Regelsatzerhöhung zum 1.Januar 2013 hochgerechnet wurden,d.h. die Verbrauchswerte wurden jeweils mit 5,58 Prozent angepasst.15

1. Ernährung

Zwischen 2,82 Euro (Kleinkinder) und 4,77 Euro (Erwachsene) enthält die Regelleistung­ in 2013 für die tägliche Ernährung (mit Mahlzeiten außer Haus).Das ist entschieden zu wenig. Für eine Ernährung­ auf mittlerem Aktivitätsniveau16 braucht es täglich mindestens zwischen 3,03 Euro und 8,06 Euro. Das ermittelte aktuell das Dortmun­der Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE).Altersunabhängig sind 2,76 Euro (hochgerechnet Januar 2013) pro 1.000 kcal notwendig17,um sich mit„Optimierter Misch­kost“18 ausreichend und gesund zu ernähren. Vorausgesetzt wurden mittlere Preise in Supermärkten und Discountern,d.h. der arithmetische Mittelwert der Minimal-und Maximalpreise für ein Produkt. Nur wer tagtäglich einen Gang durch alle Ein kaufsstätten machen und alle Preise vergleichen könnte,um so den Minimalpreis zu ermitteln und anschließend das jeweils billigste Produkt zu ich kaufen,würde sich heute vom Regelsatz ausreichend ernähren­ können19.

Für die Ermittlung von Alltagskosten-und Regelsätzen ist von Durchschnittsbedingungen­ auszugehen,nicht von einem Minimalpreis,der bei einer wissenschaftlichen Erhebung gefunden werden könnte. Zudem sind Discounter nicht überall erreichbar und nicht jede/r hat alltäglich Zeit und Mittel (Fahrtkosten!) für umfangreiche Preiserhebungen­. Deshalb muss bei der Bestimmung des Regelsatzes das mittlere Warenpreisniveau zugrunde gelegt werden. Und nur wer zu einem mittleren Preisniveau kaufen kann,muss sich nicht der alltäglichen Schnäppchenjagd nach billigsten Nahrungsmitteln unterziehen – und damit notgedrungen ein Konsumverhalten­ praktizieren,das den Kampf der großen Lebensmittel- ketten um Marktanteile noch weiter befeuert und auf Kosten der in der Lebensmittelproduktion und dem Lebensmittelhandel Beschäftigten geht.

Was folgt nun für den jeweiligen Regelsatz aus den oben skizzierten Überlegungen zu einer­ gesunden Ernährung? Nach Angaben des Dortmunder Forschungsinstituts für Kinderernährung müssen zum Kauf von Lebensmitteln der„Optimierten Mischkost“–bei Zugrundelegung­ mittlerer Preise und des jeweiligen Kalorienbedarfs – die Leistungssätze von Kindern,Jugendlichen und Erwachsenen um die Beträge aufgestockt werden, die in der vorstehenden Tabelle,rechte Spalte, aufgeführt sind20. Die Tabelle 2 zeigt sehr anschaulich,dass alters-und entwicklungsbedingt der Energie- bzw. Kalorienbedarf und die Kosten der Ernährung bei Kindern und Jugendlichen kontinuierlich steigen. Ein Vergleich des gewährten (Spalte 3) und des notwendigen Betrags für die Ernährung (Spalte 5) macht die gravierende Bedarfsunterdeckung­ deutlich. Die altersabhängig schnell steigenden Aufwendungen für die Ernährung legen zudem nahe, eine realistischere Altersstufung­ der Regelsätze von Kindern und Jugendlichen vorzunehmen,als sie heute im SGB II und SGB XII festgelegt ist. Eine Neuberechnung der Regelsatzbeträge muss sicherstellen, dass die Mittel für eine gesunde Ernährung nicht Millionen Menschen vorenthalten werden.

Tabelle 2: Regelsatzbeträge der Bundesregierung und reale Lebensmittelkosten.

Alter Geschlecht Regelsatz Energiebedarf Lebensmittelkosten Monatlicher
2013 (kcal/MJ) pro Tag Fehlbetrag
(Euro/Tag) Opt.Mischkost 2013
2 bis 3 Jahre 2,82 1.100 / 4,6 3,03 € 6,47 €
4 bis 6 Jahre 2,82 1.450 / 6,1 4,00 € 35,51
7 bis 9 Jahre 3,55 1.800 / 7,5 4,97 € 42,49
10 bis 12 Jahre 3,55 2.150 / 9,0 5,94 € 71,53
13 bis 14 Jahre Jungen 3,55 2.700 / 11,3 7,46 € 117,21
Mädchen 3,55 2.200 / 9,2 6,08 € 75,77 €
15 bis 18 Jahre Jungen 4,60 3.100 / 13,0 8,56 € 118,91
Mädchen 4,60 2.500 / 10,5 6,91 € 69,31
Alleinstehende Männer 5,40 3.100 / 13,0 8,56 € 94,65
Erwachsene Frauen 5,40 2.500 / 10,5 6,91 € 45,15

 

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15Für Details zur Berechnung (Tabellen): Martens,Rudolf (2011): Die Fortschreibung des Regelsatzes ab 1.1.2011.In: Anwalt/An- wältin im Sozialrecht,Heft 5/2011,S.178 bis 185
16Erläuterung: geringe Aktivität: überwiegend sitzend mit wenig anstrengender Freizeitaktivität; mittlere Aktivität: überwiegend sitzend, zeitweilig auch höherer Energieaufwand
17Mathilde Kersting/Ute Alexy,Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE),Ermittlung und Bewertung der Kosten einer gesunden Ernährung für Kinder und Jugendliche, Dezember 2010,Untersuchung im Auftrag der Partei DIE LINKE.Die Studie beruht auf Preiserhebungen im August 2009.Angaben zu Lebensmittelkosten/Tag bei mittleren Preisen sind dort auf S.13 in Tabelle 4 zu finden (Zahl angepasst mit Preisentwicklung Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke zwischen August 2009 und Oktober 2012).
18Vgl.ebd.,S.3:„Optimierte Mischkost“bezeichnet den Speiseplan, der die von der Deutschen Gesellschaft­ für Ernährung genannten Werte für Energie, Energie liefernde Nährstoffe, Vitamine und Mineralstoffe sicherstellt.
19Ebenda, S. 8: „Dabei wird es je nach Preisvariabilität in der Regel notwendig, mehrere Einkaufsstätten­ aufzusuchen, um alle benötigten Lebensmittel zum jeweils niedrigsten Preis einkaufen zu können.“
20Tabelle nach Kersting/Alexy,a.a.O.,S.13; Tabelle ergänzt durch eigene Fehlbetragsberechnung­ in der rechten Spalte. Die Altersstufung der Erhebung des FKE wurde in der Tabelle unverändert übernommen,­wiewohl­ Kinder und Jugendlichen im Alter von 6, 14 und 18 Jahren unter Berücksichtigung der Altersabstu­fung­ der Regelsätze von SGB II und SGB XII hätten extra aufgeführt und der Fehlbetrag hätte gesondert bestimmt werden müssen. Denn dort gilt nicht mehr der in Tabelle 2 aufgeführte Regelsatzbetrag,sondern derjenige der nächst höheren Altersstufe. Im Ergebnis ist der Fehlbetrag der Menschen im Alter von 6,14 und 18 Jahren etwas geringer als in der Tabelle ausgewiesen.

2. Bekleidung und Schuhe

Der Regelsatz der Bundesregierung veranschlagt 32,10 Euro für Bekleidung und Schuhe von Erwachsenen (Regelsatz 2013).Als existenznot- wendig werden bei der Leistungsfestsetzung­ alle Ausgaben für Kleidung und Schuhe gerechnet. Allerdings zählt die Bundesregierung die Kosten für chemische Reinigung nicht zur Existenzsicherung­. Obwohl dieser Posten mit 73 Cent gering ist,wird diese Kürzung seitens der Bundesregierung ausführlich begründet. Die Aufwendungen seien nur bei hochwertigen­ Kleidungsstücken erforderlich und stünden oft mit der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit in Zusammenhang. Es handelt sich hierbei um Überle­gungen­ allgemeiner Art und keine Begründung,warum außerhalb einer beruflichen­ Tätigkeit eine chemische Reinigung nicht notwendig sein soll. Außerdem entstehen oft gerade für „bessere Kleidung“ für Bewerbungsgespräche oder auch bei prekärer Beschäftigung etwa im Wachdienst besondere Reinigungskosten. Die Kosten für chemische Reinigung gehören nach der allgemeinen Lebenserfahrung­ zum Grundbedarf und sollten dementsprechend im Regelsatz erscheinen.

3. Haushaltsenergie (Strom)

Der aktuelle Regelsatz enthält 29,69 Euro für Strom.21 Für 2008 wurden für die Referenzgruppe durchschnittliche Ausgaben für den Stromverbrauch in Höhe von 28,12 Euro ermittelt.22 Dieser Wert wird–wie alle aus der EVS 2008 ermittel- ten Ausgaben–mit dem Faktor 5,58 Prozent zum 1. Januar 2013 angepasst. Dieser Anpassungsfaktor liegt ganz erheblich unter der tatsächlichen Preissteigerung.

Mit 28,12 Euro/Monat konnte beim Verbraucher- preis von 2008 von 21,43 Cent/Kilowattstunde (kWh) noch ein Jahresverbrauch von 1.575 kWh finanziert werden. Im September 2012 sind be­ reits 25,91 Cent pro kWh zu entrichten. Der Stromanteil des Regelsatzes 2012 reicht nur noch für 1.375 kWh. Das Ausklammern der Preisentwicklung für Strom verringert die bezahlbare Strom- menge um rund 13 Prozent gegenüber 2008.23 Dieser Fehler ist bei der EVS-basierten Regelsatzermittlung nur zu vermeiden, wenn die ermittelte Ausgabenposition im ersten Schritt in eine tatsächliche Verbrauchsmenge (hier für Strom) übersetzt wird. Im nächsten Schritt ist diese Verb­rauchsmenge mit dem aktualisierten Preis im neuen Regelsatz zu berücksichtigen. Wäre die tatsächliche, ganz erhebliche Preisstei­gerung beim Strom zwischen 2008 und Ende 2012 berücksichtigt worden, dann hätte der Stromanteil­ mit 34,00 Euro festgesetzt werden müssen. Für Januar 2013 werden laut Medienberichten von Oktober und November 2012 zusätzliche Preissprünge von bis zu 20 Prozent erwartet. Begründet wird dies seitens der Politik und der Stromversorger mit der politisch gewollten Energiewende.

Ferner ist es nicht realitätsgerecht,bei Haushalten mit Sozialleistungsbezug einen erheblich unter dem Durchschnitt liegenden Stromverbrauch anzunehmen. In der Regel werden Leistungsbeziehende weder ihre Wohnung besonders wenig nutzen, noch werden sie über besonders energiesparende Geräte verfügen. Ein-Perso­­nen-Haushalte verbrauchen durchschnittlich 1.700 kWh jährlich, Zwei-Perso­nen­-Haushalte 3.000 kWh und Drei-Personen-Haushalte 3.800 kWh.24

Schätzungsweise 600.000 Haushalten in Deutsch- land ist im Jahr 2010 aufgrund aufgelaufener Energieschulden der Strom gesperrt worden,so das Ergebnis einer­ Hochrechnung der Verbraucher- zentrale Nordrhein-Westfalen.25Eine wesentliche Ursache für die folgenschweren Zahlungsprobleme sind die erheblichen Preissteigerungen, die im- mer knapperen Haushaltsbudgets und der viel zu niedrig angesetzte Stromanteil in den Regelsätzen. Eine menschenwürdige Existenzsicherung­ setzt aber voraus, dass auch ein Minimum an Versor- gung mit Haushaltsenergie gewährleistet bleibt, selbst dann, wenn heute aufgrund von Stromschul- den eine Stromsperre eintreten würde.26

Eine Unterbrechung der Energielieferung in den Wintermonaten ist verboten. Bei Zahlungsschwierigkeiten­ können Kunden einen so genannten Budgetmeter,einen Geldkartenzähler,einrichten­ lassen. Ist das Guthaben aufgebraucht,bleibt eine Minimalversorgung sichergestellt.“(Christian Linde,Strom statt Sperre,

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21Die mit der EVS ermittelten Ausgaben der Referenzgruppe für Haushaltsenergie werden ab 2011 zu 100 Prozent anerkannt. Die Kosten der Warmwasserbereitung zählen seit Januar 2011 zu den Heizkosten,nicht mehr zum Regelsatz.Bei dezentraler Warmwassererzeugung ist ein pauschalierter Mehrbedarf anzu- erkennen.
22Vgl.Bt-Drs.17/3404,S.55; Summe Mieterhaushalte und (umge- rechnete) Eigentümerhaushalte 23Strompreise nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie,Energiedaten,Tabelle 26a,Aktualisierung 25.06.2012 (Internetzugriff November 2012).Die Angaben für 2008 beziehen sich auf den Jahresdurchschnitt.
23Strompreise nach Angaben des Bundesministeriums für Wirt- schaft und Technologie,Energiedaten,Tabelle 26a,Aktualisie- rung 25.06.2012 (Internetzugriff November 2012).Die Angaben für 2008 beziehen sich auf den Jahresdurchschnitt.
24Quelle: Schönauer Energie Spartipps 2011 25Die Hochrechnung basiert auf einer Umfrage unter lokalen Energieversorgern im bevölkerungsreichsten­ Bundesland. http://www.welt.de/wirtschaft/energie/article13879599/Hun- derttausenden-Haushalten-wird-der-Strom-gesperrt.html
26„Laut OECD ist weltweit Belgien mit seinem sozialen Ressour- cen-Management führend. Dort können Bedürftige eine Strom- menge von jährlich 600 Kilowattstunden kostenlos verbrauchen. in: MieterEcho 331,Ausgabe Dezember 2008,S.14)

4. Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände

In diesem Bereich wurden von der Bundesregie- rung 28,94 Euro angesetzt,dabei wurden Kürzungen in Höhe von 2,06 Euro (Beträge bezogen auf Januar 2013) vorgenommen,die sich insgesamt aus nicht realitätsgerechten Kürzungsbeträgen zusammensetzen. Im Gegensatz zur EVS-Auswertung 2003 bewertet die Bundesregierung jetzt „die Unterhaltung eines Gartens als nicht existenzsichernd“. Deswegen sieht sie die Position „Nicht motorbetriebene Gartengeräte nicht als regelsatzrelevant“ an, die Position „Motorbetriebene Werkzeuge und Ausstattungsgegenstände für Haus und Garten“wird um die Ausgaben für Gartengeräte vermindert. Die Unterhaltung­ eines Gartens sollte aber – wie bisher – möglich sein.

Auch die Position„Anfertigung­ und fremde Reparaturen von Heimtextilien“(17 Cent!) wird seitens der Bundesregierung als nicht existenzsichernd eingestuft. Bei Bedarf könnten Leistungsberechtigte für die Erstausstattung der Wohnung oder umzugsbedingt entsprechende­ Leistungen erhalten. Die Begründung ist nicht plausibel. Wieso tritt Bedarf dieser Position nur umzugsbedingt oder im Falle der Erstausstattung einer Wohnung auf?

Die Position„Fremde Reparaturen an Handwerk- zeugen“(12 Cent!) wird von der Bundesregierung im Unterschied zur Sonderauswertung EVS 2003 nicht mehr als existenzsichernd berücksichtigt. Reparaturen seien nur bei teuren Werkzeugen wirtschaftlich vertretbar. Besitz und Nutzung solcher Werkzeuge seien jedoch in der Durchschnittsbetrachtung bei Leistungsberechtigten nach dem Zweiten und Zwölften Buch nicht zu unterstellen. Die allgemeine Überlegung ist unplausibel. Eher trifft das Gegenteil zu: Gerade weil Werkzeuge für Leistungsberechtigte nur unter finanziellen Opfern neu anzuschaffen sind,lohnen sich Reparaturen auch bei nicht so teuren Werkzeugen.

5. Gesundheit

Für Gesundheitspflege sind im Regelsatz 16,42 Euro vorgesehen (ab Januar 2013).Allein­ stehende mit geringem­ Einkommen wenden ausweislich der EVS27 bereits bei einem Ein- kommen bis 900 Euro durchschnittlich 22 Euro monatlich für Gesundheit auf. Bei Einkommen von 901 bis 1.300 Euro sind es schon 36 Euro und bei Einkommen von 1.300 bis 1.500 Euro lagen die Ausgaben bei 42 Euro im Monat. Erfahrungsgemäß haben Ältere,Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten mitunter einen noch weit darüber hinaus gehenden Bedarf.

Diese Aufwendungen haben die Betroffenen selbst zu tragen; was von Krankenkassen gezahlt wird, ist rigide geregelt. Der Regelsatzanteil von 16,42 Euro reicht allenfalls aus,minimale krankheitsbedingt anfallende Kosten zu decken. Bei der Neubestimmung des Regelsatzes wurde der Anteil für die Gesundheitspflege­ in der Weise­ bestimmt, dass man den Verbrauchswert der Referenzgruppe der Einpersonenhaushalte um 41 Prozent kürzte,bezogen auf 2013 um 11,32 Euro. Zur Begründung weist der Gesetzgeber auf Leistungen der Krankenversicherung und die Hilfen zur Gesundheit (fünftes Kapitel SGB XII) hin,ohne damit überzeugen zu können. Denn wo die Krankenversicherung nicht zahlt, tritt durchgängig auch die Sozialhilfe nicht ein.

Einzig die Extraleistungen,die im SGB II (und in den Parallelregelungen des SGB XII) vorgesehen sind, entlasten dort, wo sie bewilligt werden, den Regelsatz (nach § 20 SGB II bzw.§ 27a SGB XII). Zu nennen wären § 24 Abs.3 Nr.3 SGB II (z.B. für orthopädische Schuhe und therapeutische Ausrüstungen) sowie § 21 Abs.6 SGB II (für im Einzelfall als unabweisbar,nicht nur einmalig anerkannte besondere Bedarfe).Derartige Extraleistungen müssen für alle krankheitsbedingten Bedarfslagen gewährt­ werden und zwar ohne die Einschränkung des § 21 Abs.6 SGB II,wonach zuerst in anderen Bedarfsabteilungen gespart werden muss.Denn zum menschenwürdigen Leben gehört unstrei- tig,die Mittel ohne Abzug zu bekommen,die bei Krankheit oder Beeinträchtigung Leiden beenden, verkürzen oder lindern können.Wenn aufgrund von Krankheit oder körperlicher Einschränkung (z.B.Kosten für Zahnbehandlung oder Sehhilfen) der in der Abteilung 06 (Gesundheitspflege) ent- haltene Betrag von monatlich 16,42 Euro bedarfsseitig überschritten wird, sind in vollem Umfang und für jeden Monat Extraleistungen vorzusehen.

Schon die in der untersten Einkommensgruppe der EVS 2008 durchschnittlich ermittelten Ausgaben im Krankheitsfall je Monat (z.B. bei Zahnersatz 91,12 Euro gemäß Ziffer 0613 072) verdeutlichen, dass diese im Bedarfsfall nicht durch Minderausgaben in anderen Verbrauchsabteilungen zu erwirtschaften sind. Der Gedanke an einen derartigen Ausgleich ist gerade bei Krankheit absurd. Er setzt besonderes Sparen gerade dann voraus, wenn die individuelle Kraft gering ist. Soll gerade dann weniger für Verkehrsdienstleistungen und Kommunikation ausgegeben, noch billiger eingekauft oder auf andere Weise an Essen oder Trinken gespart werden? Die Unter- zeichnenden sind sich darüber hinaus einig, dass die vorgelagerte gesetzliche Krankenversicherung wieder so aufgestellt werden muss, dass in der Gesundheitspflege bei keinem Menschen Bedarfe offen bleiben.28 Das würde die hier vorgeschlagene Ausweitung der Leistungen von SGB II und SGB XII bei krankheitsbedingtem Mehrbedarf entbehrlich machen.

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27Statistisches Bundesamt,Wirtschaftsrechnungen,EVS 2008, Einnahmen und Ausgaben von Privathaushalten,Fachserie 15, Heft 4,S.129
28Das gilt auch für die Kosten der Verhütung.

 

 

6. Mobilität

Für Fahrkarten,Kauf von Fahrrädern und Fahrrad- reparaturen sind im Regelsatz für den Ein-Personen-Haushalt 24,05 Euro veranschlagt (für Kinder und Jugendliche nur gerundet 13 bis 16 Euro). Das ist etwa nur die Hälfte der vom Statistischen Bun- desamt29 im Jahr 2008 für die unterste Einkommensgruppe (Ein-Personen­-Haushalte­ mit bis zu 900 Euro Nettoeinkommen) nachgewiesenen Aus- gaben von 48 Euro (bezogen auf 2008).Die nächst höheren Einkommensgruppen wendeten 103 Euro (bei 900 bis 1.300 Euro Nettoeinkommen) bzw. 140 Euro (bei 1.300 bis 1.500 Euro Nettoeinkommen) auf. Das zeigt,dass das Ausgabenverhalten der für die Leistungsbestimmung herangezogenen Referenzgruppe von Budgetrestriktionen­ bestimmt wird. Es kann nur deutlich weniger ausgegeben werden, als ein Minimum­ an sozio- kultureller Teilhabe erfordern würde. Vor allem durch das willkürliche Herausrechnen von Ausgaben für den motorisierten Individual- verkehr unterschätzt der Gesetzgeber den Mobilitätsbedarf systematisch.30 Im Ergebnis fehlen besonders denjenigen die nötigen Mittel, die sich außerhalb von Ballungsräumen bewegen müssen. Manch mehrköpfige Familie wäre unmotorisiert beim Einkauf,beim Weg zum Kindergarten oder zum Minijob „abgemeldet“. Vergleichbar ist die Lage von Menschen,die in Folge eingeschränkter Gesundheit oder fortgeschrittenen Alters,erhöhte Kosten im Bereich der Mobilität haben. Selbst für eine Fortbewegung in den Ballungsräumen reichen 24,05 Euro nicht. Schon das–in vielen Regionen nicht einmal existierende–Monatsticket zum Sozialtarif liegt darüber (z.B. Berlin ab 1.1.2013: 36,00 Euro,Unna: 26,65 Euro,Aachen: 29,80 Euro,Leipzig: 26,00 Euro,Köln: 29,70 Euro). In Hannover reichen 23,55 Euro,um neun Tage am ÖPNV teilzunehmen.

Auch die Bundesregierung ermittelt für Ein-Personen-Haushalte in der untersten Einkommensgruppe (untere 15 Prozent unter Ausschluss derer,die ausschließlich über Leistungen des SGB II oder SGB XII verfügen) verkehrsbedingte Ausgaben von knapp 60 Euro in 2008.31 Die demgegenüber angesetzten Abzüge–vor allem für motorisierte­ Fahrzeuge32 –widersprechen der Lebensrealität, zumindest solange ein flächendeckender und kos- tenloser bzw.sehr kostengünstiger öffentlicher Nahverkehr­ fehlt. Eine Rechtfertigung,die Mobilitätskosten darunter anzusetzen,ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil würde das Gebot der Teilhabe auch gelegentliche­ Fahrten z.B. zu Verwandten und Freunden einschließen müssen.

Bei einer Pauschalierung der Mobilitätskosten muss in Rechnung gestellt werden, dass mehr als die Hälfte der Hartz-IV-Beziehenden im Umland und im ländlichen Raum lebt, insbesondere Haushalte mit Kindern. Sollen die Mobilitätskosten zuverlässig und armutsvermeidend bestimmt werden,so müssten die Durchschnittskosten für Kraftstoffe und die Durchschnittskosten für den ÖPNV in die Regelsatzberechnung eingehen.33 Auch der Mobilitätsbedarf von Kindern und Jugendlichen ist auf solider Datenbasis neu und glaubwürdig zu ermitteln. Es widerspricht der Lebenserfahrung,dass in der Altersgruppe der 14-bis18-Jährigen mit 13,52 Euro noch weni- ger nötig sei,als bei den 6-bis14-Jährigen mit 14,93 Euro (Werte bezogen auf Januar 2013),wie die Bundesregierung festlegt.34

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29Statistisches Bundesamt,Fachserie 15,Wirtschaftsrechnungen aufgrund der EVS 2008,Heft 4,Einnahmen und Ausgaben privater Haushalte,S.129
30Vgl.Irene Becker,Bedarfsbemessung bei Hartz IV,in: WISO-Diskurs,Friedrich Ebert Stiftung (Hg.),Okt.2010,S.12
31Vgl.Bt-Drs.17/3404,S.140(Lfd.Nr.113,Code-Nr.07)
32Im Zusammenhang mit den Regelsatzberechnungen zu Verkehrsausgaben wurden regierungsseitig­ zwei Sonderauswertungen veranlasst. Zum einen wurden Haushalte ohne Kfz heran- gezogen,zum anderen Haushalte ohne Ausgaben für Kraftstoff und Schmiermittel. Schließlich wurden für die Regelsatzberechnungen des Bundes nur diejenigen Haushalte berücksichtigt,­ die keine Ausgaben für Kraftstoff und Schmiermittel in der EVS 2008 angegeben hatten. Mit anderen Worten,es geht um Haushalte,die ohne diese Ausgabenpositionen keinen­ Personenkraftwagen (PKW) und kein Motorrad nutzen und folglich ihren Mobilitätsbedarf durch Fahrrad,öffentlichen Personen- nah-und-fernverkehr sowie zu Fuß decken. Damit hat sich die Bundesregierung für die„preiswerteste“Variante–Haushalte ohne Kfz und Ausgaben­ für Kraftstoffe–entschieden.
33Vgl.Martens,Rudolf (2010): Mobilitätsbedarf: Ein verdrängtes Thema in der Regelsatzdiskussion­. In: WSI-Mitteilungen,Heft 10/2010,S.531 bis 536.Darüber hinaus hat es die Bundesregie­ rung versäumt,Expertisen zum Mobilitätsbedarf von Ein-Persoen-Haushalten und Haushalten mit Kindern in der EVS 2008 einzuholen.
34Vgl.Bt-Drs.17/3404,S.77 und 84; Werte auf Regelsatz Januar 2013 hochgerechnet

7. Nachrichtenübermittlung

Für diesen Bereich sind 33,74 Euro,bezogen auf Januar 2013,vorgesehen; dies entspricht einer Kürzung von rund 18 Prozent bzw.7,30 Euro. Die Bundesregierung­ betrachtet nur das Festnetztelefon als regelsatzrelevant, da es immer noch weiter verbreitet sei als das Mobilfunktelefon.

Aus diesem Grund wurde zur Ermittlung­ des Telekommunikationsbedarfs beim Statistischen Bundesamt eine Sonderauswertung der EVS 2008 für Haushalte in Auftrag gegeben,die Ausgaben­ für einen Festnetzanschluss bzw.einen Internetzugang hatten,aber keine Ausgaben für Mobil- funktelefone oder für ein Kombipaket. Diese Vor­gehensweise entspricht jedoch nicht mehr den heutigen Verbrauchsgewohnheiten. So verfügen Haushalte z.T. nur über Mobilfunktelefone ohne einen Festnetzanschluss­.

8. Freizeit, Unterhaltung und Kultur

Für diesen Bereich werden ab Januar 2013 insgesamt 42,19 Euro gewährt. Die Bundesregierung zählt u. a. folgende Positionen nicht zum erforderlichen Grundbedarf:­ Schnittblumen und Zimmer- pflanzen,Haustiere sowie Campingartikel. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung gehören Schnitt­blumen und Zimmerpflanzen­ (zur Weihnachtszeit Weihnachtsbäume) sowie Haustiere zum soziokulturellen Existenzminimum. Auch Campingartikel und Erzeugnisse für die Gartenpflege­ sind wichtige Bereiche,um einen gesellschaftlichen Ausschluss zu verhindern­. Zusammen mit weiteren Kürzungen35 einzelner Verbrauchspositionen summieren­ sich die Kürzungsbeträge auf insgesamt 37,44 Euro oder 47Prozent.

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35Des weiteren wurden noch folgende Positionen gestrichen:
Foto-und Filmausrüstungen sowie optische Geräte (1,03 Euro), Campingartikel (14 Cent),Verbrauchsgüter­ für die Gartenpflege (1,55 Euro),Ausleihgebühren für TV-Geräte,Videokameras u.ä. (11 Cent),Pauschalreisen Inland (2,84 Euro),Pauschalreisen Ausland (7,64 Euro); Werte bezogen­ auf Regelsatzhöhe 2013.

 

9. Entwicklung,Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen

Bei Kindern,deren Eltern Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII beziehen,besteht­ die Gefahr, dass sie ohne hinreichende staatliche Leistungen in ihrer Entwicklung­ stark eingeschränkt werden. Für alle Kinder ist der altersspezifische Bedarf einschließlich Bildung und Teilhabe sicher zu stellen. Die jetzigen Regelsätze sowie Leistun- gen für Bildung und Teilhabe entsprechen nicht dem realen Bedarf von Kindern und Jugendli- chen. Die Regelsätze, „insbesondere die von Kindern (…) sind nicht auf die Vermeidung von Armut ausgelegt, sondern durch eine politisch motivierte, gesteuerte Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) zustande gekommen“.36

Eine eigenständige und die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung berücksichtigende­ Er­mittlung der tatsächlichen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen liegt nicht vor. Es gibt deutliche Hinweise für die Notwendigkeit einer Altersabstufung der Regelsätze in engeren Schritten (vgl.auch Punkt Ernährung).Diese Leerstellen sind auszufüllen.

Um die Regelsätze für Kinder und Jugendliche realitätsgerechter zu ermitteln,kommen u.a.fol gende Verfahren in Betracht:

• Die vom Arbeitsministerium vorgenommenen,sachlich nicht begründeten Abschläge von den Ergebnissen der EVS betreffen auch Kinder und Jugendliche. Ohne diese Abschläge und bei Verwendung von modifizierten Aufteilungs- schlüsseln, die die statistisch gemessenen Haushaltsausgaben realitätsgerechter auf Eltern­ und Kinder verteilen,ergeben sich um 33 Euro (Kinder unter sechs Jahren),um 74 Euro (Kinder zwischen 6 und 13 Jahren) bzw.um 70 Euro (ab 14 Jahren) höhere Regelsätze.37

•Die Referenzgruppe wird in die nächst höhe ren Einkommensgruppen ausgeweitet,bis eine ausreichend große Stichprobe von Haushalten einbezogen ist, die aussagefähige und belastbare Daten liefern kann.38

•Um eine Bedarfsunterdeckung bei Kindern und Jugendlichen aufgrund von Budgetrestriktionen zu vermeiden,könnten die Ausgaben der Referenzgruppe mit den Ausgaben der nächst höheren Einkommensgruppe verglichen werden: Ergeben sich dabei krasse Unterschiede,fließen die Beträge der höheren Einkommensgruppe in die Herleitung der Regelsätze ein.39

•Auch die für Pflegekinder im Rahmen der Kin- der- und Jugendhilfe vorgesehenen Geldbeträge liefern starke Indizien dafür,dass die Regelsätze nach SGB II und SGB XII völlig unzureichend sind, um die realen Kosten für Kinder und Jugendliche zu decken: So empfiehlt der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge für die laufende­ monatliche Leistung für den Lebensunterhalt in der Kinder-und Jugendhilfe (§ 39 SGB VIII) im Jahr 2011 folgende Beträge: 0 bis 6 Jahre:

Für eine offene Diskussion über das Existenzminimum­ für Kinder nach dem Statistikmodell gemäß § 28 SGB XII (Sozialhilfe), Sept.2008

477 Euro,6 bis 12 Jahre: 552 Euro,12 bis 18 Jahre: 634 Euro (da­von entfallen altersunabhängig­

83,10 Euro auf die Bruttowarmmiete; für die Kos ten von Pflege und Erziehung sieht der Deutsche Verein zusätzlich 222 Euro vor).40

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36 Bt-Drs.17(11)309,Stellungnahme des DGB,S.11
37Irene Becker: Projektbericht„Regelleistungsbemessung auf der Basis des„Hartz IV-Urteils“des Bundesverfassungsgerichts und nach den normativen Vorgaben im Positionspapier der Diakonie“, Oktober 2010
38Die vom Arbeitsministerium verwendete Stichprobe genügt allgemein anerkannten Standards nicht,da die Fallzahlen bei vielen Ausgaben-Positionen unter 100,teils sogar unter 25 Haushalten liegen.
39Siehe zu diesem Verfahrensvorschlag: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband­ e. V.: Was Kinder brauchen …
40 http://www.deutscher-verein.de/05-empfehlungen/empfehlun-gen_archiv/2010/pdf/DV%2020-10.pdf

 

10. Beherbergungs-und Gaststättendienstleistungen

Die Bundesregierung hat hier lediglich einen Be­ trag von 7,56 Euro für Gaststätten­besuche­ ohne Hotelübernachtungen zum 1.Januar 2013 berechnet. Dies entspricht einer Kürzung von 72 Prozent bezogen auf die Verpflegung in Gaststätten und Kantinen (für den gesamten Bereich – mit Übernachtungen in Hotels – beträgt die Kürzung 75 Prozent bzw.22,12 Euro).

Laut dem Begründungstext der Bundesregierung handelt es sich bei Beherbergungs­- und Gaststättendienstleistungen jedoch „nicht um regelbedarfsrelevante Ausgaben, da die auswärtige Verpflegung –also in Restaurants, Cafés und Im­issständen sowie in Kantinen und Mensen –nicht zum physischen Existenzminimum“ zählt. Das „physische Existenzminimum“wird seitens der Bundesregierung­ gewährt, denn der „Warenwert der beim Besuch von Restaurants, Gaststätten­ etc. konsumierten Nahrungsmittel und Getränke“ ist „als regelbedarfsrelevant zu berücksichtigen“. Dem Bundesverfassungsgericht ging es aber ausdrücklich nicht nur um die Befriedigung des physischen Existenzminimums. Der Gaststätten­be­such­ diente schon immer der gleichzeitigen Befriedigung sozialer und physischer­ Bedürfnisse. Die unmissverständliche Verneinung des soziokulturellen Existenzminimums beim Gaststättenbesuch erbringt der Bundesregierung eine Ersparnis von gerundet 19 Euro. Angemessen wäre es vielmehr, die Ausgaben für Verpflegungsdienstleistungen­ von 26,52 Euro komplett in den Regelsatz zu übernehmen.

11. Andere Waren und Dienstleistungen

Von den in der EVS aufgeführten Positionen wer- den anstelle von 33,20 Euro ins­gesamt 27,98 Euro angesetzt (bezogen auf den Regelsatz 2013).

Beispielsweise gesteht die Bundesregierung in der Position„Schmuck und Uhren (einschließlich Reparaturen) nur den Anteil für Uhren (für Herren, Damen,sowie Wecker und Batteriewechsel,aber ohne Küchenuhren) als regelsatzrelevant zu. Statt der ermittelten Ausgaben von 1,91 Euro werden so nur 0,62 Euro bewilligt. An die Stelle der im Bereich „Sonstiger Dienstleistungen“ mit der EVS gemessenen Ausgaben­ (2,58 Euro) wurden nur 0,26 Euro für die Kosten eines Personalaus­weises­ eingesetzt­. Beide Kürzungen werden nicht begründet und sind nicht plausibel­.

12. Selten anfallende Anschaffungen oder Ausgaben mit höherem Wert

Es macht schon erhebliche Schwierigkeiten,das Leistungsniveau für laufende Ausgaben in den Verbrauchs-„Abteilungen“des Regelsatzes durch Auswertung der EVS korrekt zu bestimmen. Bei der Ermittlung von Beträgen für langlebige Gebrauchsgüter und andere eher selten anfallende Ausgaben von höherem Wert scheitert die Statistik jedoch vollends: Da beispielsweise der Kauf einer Waschmaschine nur bei sehr wenigen Haus- halten der Referenzgruppe im Befragungszeit- raum anfällt, ergibt sich im Durchschnitt für alle Haushalte der Referenzgruppe nur ein minimaler Geldbetrag. Diese systematische Nicht-Erfassung tatsächlicher Anschaffungskosten betrifft z.B. bei Kindern und Jugendlichen auch unregelmäßige Ausgaben wie z.B. für Mobiliar (Jugendzimmer), für den Kauf,die Ersatzteilbeschaffung und Reparatur von Fahrrädern sowie Datenverarbeitungsgeräten oder anderen Geräten.

Wir fordern daher,für notwendige Ausgaben,die nur einmalig oder unregelmäßig oder nur bei einem kleinen Teil der Referenzgruppe anfallen, kostendeckende Einmalbeihilfen zu gewähren. Diese Extraleistungen sind dann zu gewähren, wenn der Bedarf tatsächlich auftritt. Sie würden offensichtliche Lücken füllen,die in mehreren Bedarfsabteilungen zu konstatieren sind. Bei diesen Extraleistungen ausdrücklich Mittel für langlebige Gebrauchsgegenstände­ und energieeffiziente Geräte vorzusehen, brächte weitere erhebliche Vorteile:­ Abfallminderung,Unterstützung nachhaltiger Produktion und Verminderung von CO2-Emissionen.

13. Fortschreibung des Niveaus der Existenzsicherung

Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die jährliche Anpassung zukünftig anhand eines Mischindexes erfolgen. Dieser setzt sich zusammen zu 70 Prozent aus der Preisentwicklung und zu 30 Prozent aus der Nettolohnentwicklung nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Soweit die Fortschreibung im Grundsatz­.

Die Regelsatzverhandlungen der Bundesregierung im Bundesrat haben sich von Ende 2010 bis Februar 2011 hingezogen. Die Verhandlungen waren besonders schwierig, da die Regierungsseite keine Kompromisse bei der Regelsatzhöhe von 364 Euro zum 1. Januar 2011 machen wollte. Die Bundesregierung musste an anderer Stelle Kompromisse eingehen,so insbesondere auch bei der Fortschreibung des Regelsatzes. Auf diese Weise ist die Fortschreibung sehr kompliziert geworden, da für die Festsetzung zum 1.Januar 2011 und zum 1.Januar 2012 Sonderregelungen gefunden werden mussten. 41

Des Weiteren werden die Kinderregelsätze ab- weichend vom Regelsatz der Einpersonenhaus- halte bestimmt. Der Grund ergab sich aus den Regelsatzberechnungen der Kinderregelsätze, die z.T. deutlich unterhalb der bis Ende 2010 gülti­gen Kinderregelsätze lagen. Die Regierungsseite wollte sinkende Kinderregelsätze vermeiden und hat die bis 2010 gültigen Kinderregelsätze beibehalten. Allerdings wurde seitens der Bundesregierung ein„Ausgleich“geschaffen,da die Fortschreibung der Kinderregelsätze faktisch zeitlich verschoben wird.

Zu begrüßen ist die Bestimmung eines regelsatz- spezifischen Preisindexes. Ein regelsatzspezifischer Preisindex,an den die Regelsatzbedarfs- stufen jährlich angepasst­ werden,verhindert zuverlässig ein Absinken der Kaufkraft des Regelsatzes in der Zeit,in der keine neue EVS vorliegt. Dies ist jedoch nur zu 70 Prozent im Mischindex realisiert.42 Die Nettolohnentwicklung nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung umfasst alle Lohnarten von hohen Tariflöhnen bis hin zu unfreiwilliger Teilzeitarbeit,Midi-und Minijobs. Anders ausgedrückt,von regulärer Beschäftigung bis zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen,Niedrig- löhnen und Aufstockern im SGB II. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors im letzten Jahrzehnt hat dazu geführt,dass in der Aufschwungphase der deutschen Wirtschaft von 2004 bis 2007– trotz Zunahme der Beschäftigung–die Einkommensarmut nicht gesunken ist. Die Nettolohnentwicklung gemäß der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hat faktisch in der Vergangenheit die stagnierende Lohnentwicklung z.T. unterhalb der Preisentwicklung nachgezeichnet.43

Wir fordern,die Leistungen zur Existenzsicherung künftig jährlich ausschließlich anhand der Preisentwicklung anzupassen. Dabei sollte ein regelsatzrelevanter Preisindex zugrunde gelegt werden, der die unterschiedlichen Teuerungsraten für einzelne Waren-und Dienstleistungsgruppen entsprechend ihrer Bedeutung für die Existenzsicherung gewichtet.

so implizit auch die (teilweise) Fortschreibung anhand einer Nettolohnent­wicklung­ für unbedenklich. Siehe dazu: BVerfG, a.a.O.,Absatz-Nr.187.Vgl.Münder,Johannes (2011): Verfassungs- rechtliche Bewertung des Gesetzes zur Ermittlung von Regel­bedarfen­ und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011–BGBl.I S.453.Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, August 2011.In: Soziale Sicherheit, Extraausgabe 2011,S.90.Münder hält in seinem Gutachten für verfassungsrechtlich­ haltbar die Fortschreibung des Regelsatzes anhand von Nettoeinkommensdaten­.

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41Für Details siehe Martens,Rudolf (2011): Die Fortschreibung des Regelsatzes ab 1.1.2011.In: Anwalt/Anwältin im Sozialrecht, Heft 5/2011 (Oktober),S.178 bis 185
42Martens,Rudolf (2008): Was arme Kinder brauchen …Bestimmung von bedarfsgerechten Kinderregelsätzen. In: Soziale Sicherheit,Heft 10/2008,S.340 bis 346
43Betrachtet man die Nettolohnentwicklung je Arbeitnehmer nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtentwicklung­ zwischen 1993 und 2010,so ergibt sich Folgendes: Zwar steigt die Netto­lohnkurve­ größtenteils stetig an,im Gegensatz dazu belegt die Netto-real-Kurve überwiegend stagnative­ oder sinkende Tendenzen. Nur in wenigen Jahren steigt die Netto-real-Kurve an. Vor diesem Hintergrund ist die Nettolohnentwicklung nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrech­nung­ sehr viel weniger geeignet,die Kaufkraft eines Regelsatzbedarfs zu sichern. Die Nettolohnentwicklung­ nach der Volkswirtschaftlichen Gesamt- rechnung erscheint so als durchaus­ problematisch für eine Fortschreibung des Regelsatzes. Das Bundesverfassungsgericht­ hat sich jedoch positiv zu den„Laufenden Wirtschaftsrechnungen“des Statistischen Bundesamtes­ geäußert und hält

 

IV. Schlussfolgerungen für einen neuen Eckregelsatz

1. Die Dimension des Mangels

In den vorstehenden Kapiteln haben wir nachge- prüft und nachgerechnet.Wir haben­ aufgedeckt und beziffert, in welch erheblichem Umfang die Bundesregierung die zum täglichen Bedarf erhobenen Daten klein gerechnet hat,um zum heuti- gen Regelsatzzu kommen. Wir haben erkennbar gemacht,dass selbst die Übernahme der ungekürz- ten Konsumausgaben der einzelnen EVS-Referenz­ gruppe­ keine Garantie für eine Bedarfsdeckung ist. Das zeigt das Beispiel der Ernährung. Eine ausgewogene Ernährung wäre allenfalls möglich, wenn man durchgängig die preisgünstigsten Angebote kaufen würde. Doch weder ist es lebens­praktisch­ realistisch, immer das günstigste in der Stadt auf- findbare Angebot kaufen zu können,noch enthält der Regelsatz die für eine derartige Einkaufspraxis aufzubringenden Mobilitätskosten.

Die fragwürdigen und zu überprüfenden Abschläge ergeben zusammen mit den hier aufgezeigten Bedarfslücken einen Betrag in der Größenordnung von 150 bis 170 Euro. Aus dieser Zahl lässt sich zwar nicht eins zu eins der„wahre“oder einzig­ richtige Erhöhungsbetrag für eine menschenwürdige Existenzsicherung ableiten­.Doch sie verdeutlicht,wie fragwürdig die aktuellen Regelsätze ermittelt wurden­ und in welch erheb- lichem Ausmaß die geltenden Beträge hinter dem zurückbleiben,­was zur Existenzsicherung not- wendig wäre. Sie verdeutlicht die Dimension des Mangels. Sie verdeutlicht den Nachholbedarf, der über die Jahre hinweg­ aufgelaufen ist, weil die verschiedenen Bundesregierungen in der Vergangenheit das Existenzminimum faktisch­ (wenn man die Preisentwicklung berücksichtigt) immer weiter abgesenkt haben.

Wir setzen den aktuellen Regelsatzbeträgen allerdings hier keinen konkreten Betrag entgegen,weil dieser von einer Fülle normativer und rechnerischer Annahmen­ abhängig ist und damit weiterer Untersuchungen und gesellschaftlicher Diskussionen bedarf.

Wir wissen um die erheblichen Widerstände gegen­ höhere Regelsätze bis in breite gesellschaftliche Kreise hinein, die sich – trotz der aufgezeigten­ gravierenden Mängel – nicht einfach fortwischen­ lassen. Dieses Positionspapier ist für uns der Auftakt,hier gemeinsam Aufklärungsarbeit zu leisten und auf ein Umdenken hinzuwirken. Dabei halten wir auch die Forderung von Erwerbslosennetzwerken für nachvollziehbar und relevant,die Regelsätze sofort um 80 Euro anzuheben,um ein Stück mehr Bedarfsgerechtigkeit zu schaffen und eher die Möglichkeit zu geben,sich ausgewogen zu ernähren. Eine transparente und sachgerechte Neubestimmung von bedarfsdeckenden Regelsätzen ohne Rechen-und Definitionstricks,ein ehrlicher „Bedarfs-TÜV“,ist dringend geboten!

2. Hartz IV–Synonym für Armut und Ausgrenzung

Die Absenkung des Existenzminimums ist auch ein Ergebnis der seit zehn Jahren wirkenden Hartz-Gesetzgebung.„Hartz IV“ist mittlerweile zu einem Synonym­ für ein Leben in Armut und am gesellschaftlichen Rand geworden. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe,mit Verschlechterungen im Vergleich zu vielen Regelungen der alten Sozialhilfe,mit der Verbreitung von Leiharbeit,der massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors und der Verschärfung der Zumutbarkeit von Arbeit bei gleichzeitig fehlenden Mindestlöhnen wurde der Druck auf Erwerbslose und Erwerbstätige und mittelbar auch auf illegal tätige ArbeitsmigrantInnen­ erheblich verschärft.

Ein Leben am Rande und unter dem Existenzminimum soll Erwerbslosen wie auch Erwerbstätigen keine andere Wahl lassen,als auch Arbeit unter schlechtesten Bedingungen und ärmlichster Entlohnung zu akzeptieren. Mit Verweis auf das sogenannte Lohnabstandsgebot werden die Regelsätze niedrig gehalten,damit auch die Löhne unten bleiben. Zugleich werden Erwerbslose wie (noch) Erwerbstätige als Konkurrenten um knappe Arbeitsplätze gegeneinander in Stellung gebracht.„Hartz IV“ist ein wesentlicher Bestandteil einer Abwärtsspirale,die wachsende Teile der Bevölkerung erfasst.

3. Eine ausreichende Existenzsicherung schützt auch Beschäftigte

Ein deutlich höheres Grundsicherungsniveau – eines,das ein Leben in Würde sichert und dessen Regelsatz die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben tatsächlich ermöglicht–kommt nicht nur Menschen mit„Hartz IV“und Geringverdienenden zugute, sondern letztlich allen Erwerbsabhängigen und allen,deren Einkommen­ von der Regelsatzhöhe abgeleitet oder beeinflusst wird. Denn ein höheres Existenzminimum sichert Leistungsberechtigte und Erwerbstätige gleichermaßen „nach unten“ab. Ein ausreichendes Existenzminimum würde die Angst in den Betrieben vor sozialem Abstieg bei Arbeitsplatzverlust und die daraus resultierende„Erpressbarkeit“abmildern. Zudem würde es die steuerlichen Grundfreibeträge anheben und wäre somit positiv sowohl für Erwachsene wie für Kinder.

4. Den gesellschaftlichen Spaltungsprozess aufhalten

Wir haben uns daher darauf geeinigt, für eine deutliche Erhöhung der Regelsätze in der Gesellschaft einzutreten und zusammen eine breite gesellschaftliche Debatte anzustoßen über die Frage „Wie viel braucht ein Mensch zum Leben und wie soll das aussehen?“

Unser Ziel ist eine realitätsgerechte Korrektur der Existenzsicherung zu erreichen und für alle die materiellen Voraussetzungen eines menschen- würdigen Lebens zu schaffen. Dabei wollen wir nicht nur über Geld reden, sondern auch über notwendige Verbesserungen der öffentlichen Infrastruk­tur,­die uns einer sozial gerechten,fairen und ökologischen Gesell­schaft­ ohne Einkommensarmut und Ausgrenzung näher bringen. Dem Prozess der zunehmenden Verarmung und Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich wollen wir gemeinsam entgegentreten.

5.Unsere Forderungen

1.Das soziokulturelle Existenzminimum darf nicht weiter mittels fragwürdiger Berechnungsmethoden festgesetzt werden.

Es geht um ein Grundrecht unserer Verfassung, nicht um politische Opportunität und Kassenlage. Wir fordern eine methodisch saubere,transparen- te Ermittlung der Regelsätze und einen Verzicht auf willkürliche,sachlich nicht begründbare Abschläge.

2.Die aus der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe (EVS) gewonnenen Daten müssen anhand weiterer Untersuchungen, die den tatsächlichen Bedarf ermitteln, auf ihre Plausibilität überprüft werden.

Die statistischen Befunde zu den Ausgaben der unteren Einkommensgruppen sind vielfach wenig geeignet,das soziokulturelle Existenzminimum zu ermitteln, weil die EVS-Daten eher den Mangel an Bedarfsdeckung abbilden als den eigentlichen Bedarf. Außerdem wird das Minimum an zuver- lässigen Daten in zu vielen Fällen zu weit unter- schritten, um noch zu zuverlässigen Ergebnissen kommen zu können. Zu einer bedarfsgerechten­ Bestimmung der Regelsätze müssen die EVS-Ergebnisse mit den tatsächlichen aktuellen Lebens- haltungskosten abgeglichen werden.

3.Die Defizite des gegenwärtigen Systems werden bei Kindern und Jugendlichen am offenkundigsten.

Nach Verlautbarung der Bundesregierung hätten es die Daten der EVS 2008 sogar erlaubt,die Leistungssätze von Kindern und Jugendlichen ab Januar 2010 gegenüber 2009 zu senken. Das hatte mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun. Den Schritt,die Sätze Minderjähriger zu kürzen, vollzog die Bundesregierung zwar nicht, be schloss aber,die Beträge aus dem Jahr 2009 so lange beizubehalten,bis künftige Anpassungen aufgrund der Preis-und Lohnentwicklung die von ihr neu ermittelten niedrigeren Beträge über die Werte von 2009 anheben.44 Wir fordern die sofortige Aussetzung dieser Regelung und die aktuellen Beträge entsprechend der Preisentwicklung fortzuschreiben.

Um Regelsätze in einer Höhe festzulegen, die den tatsächlichen Mindestbedürfnissen­ von Kindern und Jugendlichen gerecht werden, fordern wir, deren Regelsätze bedarfsorientiert zu überprüfen. Zugleich ist die heutige Altersstaffelung und der Verteilungsschlüssel von haushaltsbezogenen Ausgaben („Gemeinkosten“) zu hinterfragen. Das Beispiel Kinderernährung verdeutlicht,wie unzuverlässig die Ergebnisse sind, wenn sie wie heute ausschließlich aus der EVS ermittelt werden.

4.Die jährliche Anpassung der Regelsätze sollte sich ausschließlich nach der Preisentwicklung der regelsatzrelevanten Güter richten.

Der Bezug zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ist durch die EVS als Basis der Regelsatzbestimmung gegeben. Eine zusätzliche Berücksichtigung der Unwägbarkeiten der Entwicklung von Löhnen und Abgaben ist nicht sachgerecht für die Ermittlung des Existenzminimums.

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44 Die Bundesregierung argumentiert, dass die von ihr vorgenommene Auswertung der EVS-Daten des Jahres 2008 sogar eine Senkung der Zahlbeträge für Minderjährige ab Januar 2010 gerechtfertigt hätte. Sie errechnete für die drei Altersstufen (un- ter 6,unter 14,unter 18 Jahren) Werte von 213 Euro,242 Euro und 275 Euro. Aufgrund des„Einfrierens“der alten Beträge (§ 77,4 SGB II) wird mit den seit dem 1.Juli 2009 geltenden Beträgen bis 2011 weiter gerechnet: 215 Euro,251 Euro und 287 Euro. Erst ab 2013 gelten für alle Altersstufen höhere Beträge von 229 Euro,260 Euro und 295 Euro (nur die Altersstufe unter sechs Jahren wurde 2012 von 215 Euro auf 219 Euro angehoben).

 

5. Für langlebige Gebrauchsgüter, aufwändige Leistungen der Gesundheitspflege­ und bei hohen Mobilitätsanforderungen müssen Extraleistungen­ gewährt werden.

Nicht alles ist pauschalierbar,gerade größere not­ wendige Anschaffungen sind aus dem Regelsatz nicht zu finanzieren–auch weil sie mit den Methoden der EVS nicht so ermittelt werden können, dass sie dem konkreten Bedarfsfall gerecht wer- den.

6.Das soziokulturelle Existenzminimum muss als Mindestanspruch allen zugestanden werden–egal,ob sie gerade über Erwerbs­­einkommen­ verfügen können oder nicht.

Zu einem menschenwürdigen Leben gehört dies ebenso dazu wie faire Erzeugerpreise,existenzsichernde Erwerbseinkommen und Nachhaltigkeit als Qualitätsmaßstab für die benötigten Waren und Dienstleistungen.

7. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gilt für alle hier lebenden Menschen.

Das Asylbewerberleistungsgesetz ist abzuschaffen, der gleiche Zugang aller hier lebenden Menschen zu Leistungen nach dem SGB II und SGB XII ist sicherzustellen. Auf Arbeits-und Ausbildungsverbote,Residenzpflicht und Einweisung in Sammellager ist zu verzichten. Hier lebende Unionsbürger dürfen von der Existenzsicherung nicht ausgeschlossen werden.

8.Die Entscheidung über das Existenzminimum muss der Gesetzgeber unter breiter gesellschaftlicher Beteiligung treffen.

Bisher wird die Frage,was zum Leben mindestens erforderlich ist,faktisch weitgehend von der Ministerialbürokratie beantwortet. Wir wollen dies ändern und fordern die Einsetzung einer unabhängigen Kommission. Diese soll aus WissenschaftlerInnen,VertreterInnen von Wohl- fahrts-und Sozialverbänden,den Sozialpartnern, Kommunen und nicht zuletzt Betroffenen selbst bestehen.Aufgabe der Kommission ist die Erarbeitung von Vorschlägen für den Gesetz- geber sowohl hinsichtlich der Parameter der EVS-Auswertung als auch der Überprüfung der EVS-Ergebnisse im Sinne eines „Bedarfs-TÜVs“.

Eine bedarfsorientierte Überprüfung nach der Warenkorbmethode kann zudem die Ermittlung der Regelsätze von einer„technokratischen“Hin- terzimmer-und Expertenentscheidung zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte öffnen.

V. Anhang

Tabelle 3: Anzahl Grundsicherungsbeziehende im SGB II und Grundsicherungsbeziehende inner-und außerhalb von Einrichtungen im SGB XII,für die kurzfristig oder dauerhaft eine Existenzsicherung über Erwerbsarbeit nicht möglich ist: insgesamt trifft das auf rund vier Millionen Menschen zu.

(In Tabelle 1 auf S. 15 sind für den Bereich des SGB XII nur Daten für Personen außerhalb von Einrichtungen aufgeführt.)

SGB XII (Nicht Erwerbsfähige) 1.116.000
Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen 98.400
Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt innerhalb von Einrichtungen 221.000
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 796.600
– davon Grundsicherung bei Erwerbsminderung* 369.600
–davon Grundsicherung im Alter* 427.000
SGB II 2.870.700
Nicht Erwerbsfähige 1.715.200
– darunter: unter 15 Jahren 1.657.400
Erwerbsfähige 1.155.500
–davon Schule,Studium,Ausbildung 344.000
–davon Erziehung,Pflege 316.300
–davon Krankheit (Arbeitsunfähigkeit) 236.300
– davon in vorruhestandsähnlicher Regelung 258.900

Quellen:

•Zum SGB XII: Statistisches Bundesamt: Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2012): Soziale Mindestsicherung in Deutschland 2010

*Daten aufgeschlüsselt und berechnet für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung anhand Relationen der Statistik 2007-2009 (Statistisches Bundesamt,Sozialleistungen: Fachserie 13,Reihe 2.2,Internetzugriff November 2012)

•Zum SGB II: Bundesagentur für Arbeit: Grundsicherung für Arbeitsuchende­ in Zahlen,September 2012,Statistik der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II,Zeitreihe zu Struktur- werten SGB II nach Ländern,Berichtsmonat Juli 2012

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